4/11/17

Der Karyotyp - Kapitel 1



Aus der Novelle "Der Karyotyp" von Akis Papantonis
übersetzt ins Deutsche von: Eleni Stagkouraki ©


[1]



Es gab Tage, an welchen der Nebel sich zurückzog. Erst dann kamen die Farbe der Steine auf dem Gehsteig und die Flicken im Gras in den Vorgärten zum Vorschein, jener Moosbezug, der die Dächer der gleichaussehenden und gleichgefärbten Häuser bedeckte. An solchen Tagen atmete die Stadt tief ein. Er ging zu im Voraus geplanten langen Spaziergängen hinaus, immer alleine, in Schals, Pullover und Mantel gut eingehüllt. Er stieg die sieben Stufen mit äußerster Vorsicht hinauf und erreichte den Gehsteig. Jedes Mal zählte er sie mit der Angst, dass sie sich vielleicht über Nacht vermehrt oder verringert hätten. Sobald er die letzte Stufe erreichte, tastete er den Gehsteig mit der Spitze seines Schuhs ab, als ob er die Wassertemperatur eines fiktiven Meeres testete. Dann lief er los. Er ging auf dem Gehsteig und achtete darauf, dass er seine Schritte immer innerhalb der vier Seiten der Platten setzte. Im Falle, dass es geschneit hatte, achtete er besonders darauf, dass er mit größter Präzision den Schritten seines Vorgängers folgte. Er ging langsam. Um die Straße zu überqueren, benutzte er immer die Zebrastreifen. Und immer setzte er dieselben Orientierungspunkte  für die Strecke: den roten Postkasten der Royal Mail um die Ecke, der verlassene Pub „Fox & Hounds“, das Haus mit den grüngefärbten Wänden, den unrasierten und am Zaun der Stadtbibliothek lehnenden Obdachlosen, das Schaufenster des Teeladens am Eingang des Marktes. Immer dieselben Abbiegungen nach rechts oder links auf der Karte seines alltäglichen Lebens. Nicht dass er in einer Stadt verloren gehen würde, die er trotz seiner drei Jahre dort kaum kannte.  An einem Donnerstagnachmittag fand er seine Orientierungspunkte  anders vor. Er schenkte dieser Tatsache keine besondere Bedeutung. Wie immer stieg er die sieben Stufe hinauf. Frischer Schnee bedeckte die Lünette seiner Wohnung und den  roten Postkasten. Aus dem Pub entwickelte sich langsam eine TescoSupermarktfiliale. Das grüne Haus lag unter Nylonschichten und die herumlaufenden Arbeiter glichen Ameisen. Der Zaun der Stadtbibliothek war frischgestrichen und der Obdachlose war nirgendwo zu sehen. Er ging weiter. Er glaubte nämlich nicht an Zeichen. Das Schaufenster des Teeladens war zum Beispiel intakt. Dosen und Büchsen mit English Breakfast, Green Leaf, Darjeeling und Earl Grey waren auf einandergestapelt. Einer der roten Busse, die nach London fuhren, fuhr auf den Gehsteig. Er sah nichts und hörte auch nichts. Er war auf der Stelle tot. Leute sammelten sich um ihn herum. Manche weinten laut vor sich hin. Das Schaufester des Teeladens war jetzt mit Blut bespritzt. Die Polizei sperrte stundenlang die Straße mit gelbem Polizeiband ab: „POLICE LINE DO NOT CROSS“. Das Ereignis wurde detailiert aufgenommen und viele Fotos  wurden geschossen. Bis hin in den frühen Abend lag sein Körper auf dem Gehsteig. Am nächsten Morgen sorgte sein Tod für die Schlagzeilen in der  Oxford Times und der Oxford Mail. Dazu waren auch Mitteilungen von Passanten und Nachbarn zu lesen, mit welchen er nicht einmal einen Blick ausgetauscht hatte.  

 
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